Hier war schönes Land

Franziska Martin

 

Im Bavona Tal, einem wilden und ursprünglichen und sehr engen Tal im Tessin, lebten einst die Menschen und die Steine in einer Art Symbiose (oder vielleicht war es auch eine Hass-Liebe).

Die Menschen lebten von der Subsistenzwirtschaft und mussten somit mit dem Leben, was die Natur hergab. Doch im Tal kam es über die Jahrhunderte immer wieder zu grossen Bergstürzen. Gigantische, teilweise haushohe Felsblöcke sind auch heute noch überall im Tal verstreut. Jeder Quadratmeter fruchtbarer Fläche war also wertvoll und die Menschen mussten erfinderisch sein. So legten sie Gärten auf den Steinen an. Das waren die „Giarditt“ oder auch „die hängenden Wiesen“ des Val Bavona. Angepflanzt wurden Wiesen für einen Korb voll Heu für die Tiere oder auch Gemüse wie Kartoffeln, Bohnen, Salat etc. Die Steine waren von nun an mehr als nur Steine. Sie waren wertvolle Gärten und wurden mit viel Sorgfalt gepflegt. Sie bekamen sogar Namen und wurden über Generationen an die Nachkommen weitergegeben und gepflegt. In historischen Texten wird die Nutzung der Felsblöcke als Gärten ab dem 16 JH. erwähnt. Es gibt so gut wie keine Bilder von den Gärten von damals.

Heute lebt fast niemand mehr das ganze Jahr über im Tal. Die Häuser sind zu Ferienhäusern geworden und die Gärten sind grösstenteils verschwunden oder wurden von den Wäldern überwachsen.

Viele Gedanken und Fragen kommen auf.

Wie verzweifelt müssen die Menschen damals gewesen sein, als ein gigantischer Bergsturz ein Dorf und viel fruchtbares Land unter sich begrub? Aber Zeit für Verzweiflung und Ohnmacht gab es nicht. Es ging ums Überleben. Die Menschen mussten mit dem Leben, was die Natur hergab. Und wenn die Natur ihnen Steine in den Weg gelegt hatte, dann mussten sie etwas aus diesen Steinen machen.

Wer einmal im Bavona Tal war und diese gigantischen Felsblöcke gesehen hat, der ist tief berührt von dem Mut und dem Durchhaltewillen dieser Menschen. Es geht um die Ehrfurcht und um die Furchtlosigkeit. Auch Themen wie Umnutzung / Transformation fliessen mit ein. Und es geht um die Tragik und die Komik, die manchmal so nahe beieinander sind. Um diese fast schon absurde Idee einen Stein zu bepflanzen und etwas Unfruchtbares fruchtbar zu machen – mit dieser tiefsten Ernsthaftigkeit.

 

Franziska Martin

 

Geboren 1984 in der Schweiz. Handelsmittelschule und Weiterbildungen im Kulturmanagement brachten Franziska Martin zum Theater und zum Fernsehen. Gleichzeitig bildete sie sich in einer GAF (Gruppe Autodidaktischer Fotografen) zur Fotografin aus. Es folgte ein Studium der Fotografie und freien Kunst in München. Seit 2016 ist sie selbständige Fotografin in den Bereichen Portrait & Reportagen. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Frauenfeld.